Tage der Freuden by Marcel Proust

Tage der Freuden by Marcel Proust

Autor:Marcel Proust
Format: epub
Tags: Erzählungen
Herausgeber: Ullstein Taschenbücher-Verlag GmbH


IV

»Gewidmet dem, der verloren hat,

was sich nie wiederfindet ... nie.«

Baudelaire

Im Winter meines zwanzigsten Lebensjahres wurde die Gesundheit meiner Mutter, die nie die stärkste gewesen war, sehr erschüttert. Ich erfuhr, daß ihr Herz erkrankt war, noch ohne besondere Gefahr, aber doch so, daß man ihr alles Störende fernhalten sollte. Einer meiner Onkel sagte mir, meine Mutter wünsche mich verheiratet zu sehen. Eine wichtige, klare Pflicht wurde mir vor Augen gestellt, ich sollte meiner Mutter beweisen, wie sehr ich sie liebte. Ich nahm die erste Werbung an, die sie mir übermittelte und die sie billigte, und setzte so, mangels Willenskraft, die Notwendigkeit an die erste Stelle, damit sie mich zwingen sollte, mein Leben zu ändern. Mein Verlobter war ein junger Mensch, dessen außerordentliche Intelligenz, dessen Sanftheit und Energie gerade einen besonders glücklichen Einfluß auf mich ausübten. Außerdem war er entschlossen, mit uns zu wohnen, ich mußte mich nicht von meiner Mutter trennen, was mir den bittersten Schmerz bereitet hätte.

Nun fand ich den Mut, alle meine Fehler meinem Beichtvater zu bekennen. Ich fragte ihn, ob ich dasselbe Geständnis auch meinem Verlobten schulde, er war mitleidig genug, mich von diesem Gedanken abzubringen, aber er ließ mich schwören, nie meine Verirrungen zu wiederholen, und gab mir dann die Absolution. Die späten Blüten, welche die Freude in meinem Herzen (ich hatte es längst für ewig verdorrt gehalten) sprießen ließ, trugen bald ihre Früchte. Die Gnade Gottes, das Gnadengeschenk einer Jugend, in der so viele Wunden sich von selbst dank der Lebenskraft dieses Alters schließen, hatten mich geheilt.

Wenn es schwerer ist, Keuschheit wiederzugewinnen als sie zu verlieren – ein Ausspruch des Heiligen Augustin –, so lernte ich jetzt eine eigene Tugend kennen. Kein Mensch zweifelte daran, daß ich nun viel mehr wert sei als zuvor, und meine Mutter küßte jeden Abend meine Stirn, nie hatte sie aufgehört, daran zu glauben, daß diese Stirn rein war. Mehr noch, man machte mir in diesem Augenblick wegen meines zerstreuten Wesens, wegen meines Schweigens, wegen meiner Schwermut in der Gesellschaft ungerechte Vorwürfe. Aber ich wurde nicht böse, zwischen mir und meinem beruhigten Gewissen war ein Geheimnis, dem ich viel innere Freude verdankte. Einen unendlich zarten Zauber hatte die Genesung meiner Seele, sie lächelte mir jetzt wie das Antlitz meiner Mutter, wie mit zärtlichem Vorwurf durch gestillte Tränen. Ja, meine Seele begann ein neues Leben, nun verstand ich nicht mehr, wie ich diese Seele hatte mißhandeln, quälen, ja fast töten können, und ich dankte Gott aus strömendem Herzen, sie noch im letzten Augenblick gerettet zu haben.

Diesen selben Gleichklang der tiefen, reinen Freude und der frischen Heiterkeit des Himmels genoß ich an dem Abend, wo »alles sich erfüllt hat«. Trotzdem mein Verlobter, der auf zwei Tage zu seiner Schwester gereist war, abwesend war, trotzdem der junge Mann, den die schwerste Verantwortung für meine begangenen Fehltritte traf, am Diner teilnahm, empfand ich an diesem klaren Maienabend nicht die geringste Traurigkeit. Keine Wolke am Himmel, keine auf seinem Spiegel, meiner Seele. Als bestehe zwischen meiner Mutter und meiner Seele eine geheimnisvolle Verbindung (obwohl die Mutter von meinen Verfehlungen absolut nichts wußte), war mit meiner Seele auch meine Mutter fast geheilt.



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